Ein Weg des mystischen Islams?

Das Alevitentum, ein Weg des mystischen Islams?

Seit Jahren wird besonders in der alevitischen Gesellschaft eine hitzige Diskussion über die Entstehung und Verortung des Alevitentums geführt. Es gibt allerlei Theorien, die je nach ideologischer Sichtweise des jeweiligen Autors eine andere Definition des Alevitentums und dessen Wurzeln vertreten. Fast alle dieser Autoren blenden zum Teil bewusst die Mystik und allen voran die Islamische Mystik aus. Dieser kurze Artikel geht näher auf das Thema der Mystik im Islam und dessen Beziehung zur alevitischen Glaubenslehre ein.

Zunächst eine kurze Definition der Mystik:
Die Mystik ist eine religiöse Anschauung, die durch die Versenkung, durch Hingabe oder Askese[1] eine persönliche und erfahrbare Verbindung mit Gott bzw. dem Göttlichen sucht. Eine weitere Definition beschreibt die Mystik als eine religiöse Strömung mit dem Ziel, dass der Mensch zeitlebens danach strebt sich Gott anzunähern und letztendlich mit Gott eins zu werden. Die islamische Mystik ist vor allem unter dem Begriff Sufismus bekannt. Sufismus (Tasavvuf) leitet sich vom arabischen Wort „suf" (Wolle) ab, da die ersten islamischen Mystiker Asketen[2] waren und Wollgewänder trugen. Sufis nennen sich selbst häufig die Armen, arabisch: al fuqara, Mehrzahl von faqir (Fakir), persisch: darwish (Derviş).

Der Sufismus ( tasavvuf ) entwickelte und entfaltete sich aus dem Kontext des Islam heraus.
Das Wort „Islam" als der arabische Ausdruck für absolute Hingabe (an Gott) wurde von den Mystikern als Kompass für ihren mystischen Weg befolgt. Diese Hingabe war und ist den Sufis wichtiger als nur strikt die äußere Form der Religion zu befolgen. Die Suche nach direkter Gotteserfahrung, nach der Tiefe des Seins und die Liebe und Sehnsucht nach Gott, der in vielen Gedichten als dem/der Geliebten betitelt wird, spiegelt den Kern des Sufismus wieder.

Die Mystikerin Rabia`al- Adawiyya, hat im 8. Jahrhundert den Begriff der reinen
Gottesliebe in die islamische Mystik eingeführt. Ihr wird der Ausspruch: „Ich will Wasser in die Hölle gießen und Feuer ans Paradies legen, damit diese beiden Schleier verschwinden und niemand mehr Gott aus Furcht vor der Hölle oder in Hoffnung aufs Paradies anbete, sondern nur noch um Seiner ewigen Schönheit willen." [3] zugeschrieben.

Hz. Ali teilte die Gläubigen in Gruppen ein und sagte: „Wahrlich, eine Gruppe betet Gott aus Gier an, das ist die Gottesverehrung der Kaufleute. Und wahrlich, eine andere Gruppe betet Gott aus Furcht an; das ist die Gottesverehrung der Sklaven. Und wieder eine andere Gruppe betet Gott im Geist der Dankbarkeit an; das ist die Gottesverehrung der Freien[4]."

Ab dem 8. Jahrhundert entwickelten sich im islamischen Herrschaftsbereich verschiedene Sufi-Orden, die verschiedene Strömungen in sich aufnahmen. Dabei wurden auch Elemente aus der vorislamischen Zeit, Ideen aus früheren Weisheitslehren aus dem Altägyptischen, Griechischen, Zoroastrischen (Mesopotamien/Persien), aus der indischen, buddhistischen und christlichen Lehre aufgenommen.

Die islamische Mystik hat bei genauer Betrachtung sehr viele kennzeichnende Einflüsse auf das Alevitentum. Angefangen beim Gottesbild, der Einheit des Seins (Vahdet-i Vucud), das Wertesystem der vier Pforten und vierzig Stufen (dört kapı, kırk makam), der vollkommene Mensch (İnsan-i Kamil), das Islamverständnis der Batiniya (innere mystische Deutung des Koran) und viele weitere zentrale Punkte der alevitischen Lehre haben ihren Ursprung in der islamischen Mystik. Aleviten verehren eine Reihe von islamischen Mystikern wie Hallac-i Mansur, Haci Bektasi Veli, Yunus Emre und die sieben großen Dichter der alevitischen Poesietradition (Seyyid Imad'ed-Din Nesimi, Fuzuli, Şah Ismail Hatayi, Pir Sultan Abdal, Kul Himmet, Virani und Yemini). Oftmals wird das Alevitentum als eine anatolische Version der islamischen Mystik bezeichnet.

Das Gottesbild/Menschenbild

Die Einheit Gottes wird bei den Aleviten Tevhid genannt. „Aleviten glauben an den einen und einzigen Gott (Allah/Hak)" [6]. Die Einzigkeit Gottes findet ihren Ausdruck im islamischen Glaubensbekenntnis, das von Aleviten durch den Zusatz „und Ali ist sein Freund" ergänzt wird. [7]. Aleviten verwenden dieses Glaubensbekenntnis in einer Kurzform „Ya Allah, ya Muhammed, ya Ali".

Laut der alevitischen Mystik wünschte Gott sich zu manifestieren und trat ins Sein.
Wie es auch in einer heiligen Überlieferung (Hadith al Kutsi) [8] heißt: „Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt werden. So schuf ich den Kosmos".
Gott erschuf ein Licht und durch dieses Licht trat das übrige Sein ins Sein.
Während Mohammed die „äußere" Ebene dieses Lichtes darstellt, stellt Ali die „innere", verborgene Seite des Lichtes dar - gemeinsam bilden sie das Licht Mohammed-Ali (Mohammed-Ali Nur`u).
Mohammed sagte einst: „Ali und ich sind aus demselben Licht". Aus diesem Grund bilden Mohammed und Ali eine untrennbare Einheit, wobei Mohammed nicht ohne Ali und Ali nicht ohne Mohammed gedacht werden kann. Der Dichter Şah Hatayi (16. Jahrhundert) drückt es so aus: „Mohammed ist Ali und Ali ist Mohammed (Mohammed Ali`dir Ali Mohammed)".

Das alevitische Gottesbild definiert sich nach dem Prinzip der Einheit des Seins (Vahdet-i Vucud), das von dem bekannten islamischen Mystiker Ibn Arabi (1165-1240) systematisiert wurde. Diese Anschauung besagt, dass Gott in all seinen Schöpfungen existiert. Der Erschaffer ist hiernach auch im Erschaffenen. [9]Jedoch bedeutet dies nicht wie im Pantheismus (Vadet-i Mevcut) [10], dass Gott auf seine Schöpfungen zu reduzieren ist. Er existiert auch über diese hinaus.

Aleviten glauben das der Mensch, als höchste Schöpfung Gottes, dessen göttliche Kraft (kutsal güç) in sich birgt.
Das Alevitentum wird häufig auch als Weg (Yol) bezeichnet, diese heilige, göttliche Kraft in sich zu wecken. Nach Auffassung der Aleviten ist das Herz der Menschen als „Haus Gottes" anzusehen. Der Weg der vier Pforten und vierzig Stufen (dört kapı, kırk makam) hat das Ziel, den Menschen zu einem vollkommenen, weisen Menschen (Insan-i Kamil) zu machen. Ein solcher Mensch hat durch ein tugendhaftes Leben den Einklang mit Gott erlangt.

Der Ausspruch „Ich bete keinen Herren an, den ich nicht sehe" [5] von Hz. Ali unterstreicht seine mystische Erkenntnis Gottes. Auf die Frage auf welche Weise Hz. Ali Gott wahrgenommen hat, antwortete er das die Augen Ihn nicht sehen können, vielmehr seinen es die Herzen, die Ihn durch die Wahrheit ihres Glaubens sehen.

Auch der islamische Mystiker Hallac-ı Mansur (858 - 922) hat durch seinen Ausspruch „Ene'l Hak!" diese Verschmelzung mit Gott „Einswerdung" ausgedrückt und geprägt. „Ene'l Hak" bedeutet vom Arabischen ins Deutsche übersetzt: „Ich bin die absolute Wahrheit". Diese Aussage wurde von seinen Gegnern als „Ich bin Gott" gedeutet und führte 922 zu seiner Hinrichtung. Das Wort „Hakk" ist darüber hinaus einer der 99 Namen Gottes im Islam und ist der von den Aleviten am häufigsten verwendete Gottesbegriff. Mansur drückte hiermit seine mystische Erfahrung aus, mit Gott Eins geworden zu sein. Was für Mansurs Gegner Grund zur Hinrichtung wegen Blasphemie war, ist für die Aleviten das Resultat eines Prozesses, den der wahre Gläubige durchlaufen muss, um durch eine mystische Verschmelzung zur „absoluten Wahrheit" zu gelangen. Daher ist sein Ausspruch keineswegs anmaßend oder gar Gotteslästerung.

Welche Bedeutung die Aleviten Hallac-ı Mansur und seiner Lehre beimessen, ist daran zu erkennen, dass innerhalb des „Cem" das so genannte „Dar-ı Mansur" eingerichtet ist - eine, wenn man so will, Recht sprechende Instanz. Hier müssen Gläubige, die sich etwas haben zu Schulden kommen lassen, in gebeugter Haltung Rechenschaft vor versammelter Gemeinde ablegen und eine angemessene Strafe entgegennehmen.
Laut der alevitischen Quellen sowohl schriftlich als auch mündlich wird das Alevitentum im Islam verortet.

Doch von welchem Islam wird dabei ausgegangen?

Bei näherer Betrachtung der islamischen Orthodoxie und ihren fünf Säulen, die von den Aleviten fast ausnahmslos abgelehnt bzw. durch Äquivalente ersetzt werden, wird eine Zugehörigkeit zur gleichen Religion nicht ersichtlich.
Wenn nun die Gemeinsamkeiten zum orthodoxen Islam nur minimal vorhanden sind, von welchem Islam ist dann die Rede?
Auch der Sufismus heutzutage als eine Form des mystischen Islams ist nicht in allen Punkten deckungsgleich mit dem Alevitentum. Während der Jahrhunderte entwickelten sich verschiedene Strömungen innerhalb des Sufismus. Es gibt heutzutage sogar eine Reihe von Sufi-Orden, die strikt islamisch Orthodox sind und in der Praxis keine Gemeinsamkeiten mit dem Alevitentum vermuten lassen. Jedoch bei genauer Betrachtung der Entwicklungsgeschichte der islamischen Mystik und deren Auslegung des Islams auf Basis der innere/mystische Deutung (Batiniya), wird ersichtlich, dass die große Menge der vorhandenen Gemeinsamkeiten auf gemeinsame Wurzeln hindeuten.
Diese gemeinsamen Wurzeln werden deutlich im nachfolgenden kurzen Auszug aus dem Buch „ Tacu'l Arifin Es-Seyyid Ebu'l Vefa Menakibnamesi". Das Buch handelt über das Leben und Wirken und die mystisch islamischen Ansichten des Berühmten alevitischen Geistlichen Pir Seyyid Ebu'l Vefa (1026- 1107). Er gilt als Meister des Dede Garkın und viele alevitische Geistlichenfamilien (Ocaks) beziehen sich auf ihn.

Der nun nachfolgende Dialog liefert die Antwort auf die Eingangs gestellte Frage: „Das Alevitentum, ein Weg des mystischen Islams?"
Bei einer Diskussion in Bagdad wurde Pir Seyyid Ebu'l Vefa folgendes gefragt [11]:
-"Was ist der Islam?"
Der Pir sagte: "Fragt ihr nach eurem oder meinem Islam?"
-"Ist dein Islam und unser Islam denn anders?"
- Seyyid Ebu'l Vefa sagte: "Ja"
- „Beschreibe es, damit wir es verstehen!"
- Seyyid Ebu'l Vefa : „Euer islamisches Glaubensbekenntnis ist der Glaube in Gottes Einheit und die Bejahung dessen mit eurer Zunge! Ein Gelöbnis abzugeben, mit eurem Herzen daran zu glauben und mit euren Gliedern/Organen (Körper) zu handeln. Mein Islam ist mich von meinem schlechten Ego zu entfernen, und in jede Zelle meines Körpers das gute Ethos (Ahlak) einzusetzen und all meine Zeit, als Diener Gottes zu dienen. Euer Fasten ist es im Ramadan tagsüber auf das Essen und Trinken zu verzichten. Mein Fasten ist es sich von allen trügerischen Dingen dieser materiellen/sterblichen Welt zu trennen und nicht unter dem Bann des Ego zu sein. Nur so viel zu essen und zu trinken, wie ich Kraft zum Dienen benötige und mich von allem Schlechten für die Menschheit zu entfernen. Von allen negativen Eigenschaften und Dingen die mir schaden zufügen könnten sich zu trennen.

Eurer Zakat (Pflichtarmenabgabe im Islam) wird gemessen in Gold, Silber, Vieh und anderen Gütern.
Meine Armenabgabe ist es mein ganzes Hab und Gut ohne mich dabei zurückzuhalten zu geben, großzügig mit allem was ich habe zu sein und mich mit der wahren Existenz, mit Allah zu sättigen. Eure Pflicht die Pilgerfahrt einmal im Leben zu erfüllen, ist für diejenigen die die Kraft dazu haben. Aber wir erfüllen unsere Pilgerfahrt und die uns auferlegten Pflichtgebete jederzeit und fortwährend in Mekka (mit Mekka ist das Herz des Menschen als Wohnort Gottes gemeint (Beytullah)). Dies wissen die Menschen, die aufrichtig und ohne jegliche Falschheit sind."

Mahir Şahin (2013)

Quellenverweis

[1] eine enthaltsame Lebensweise
[2] Menschen, die enthaltsam Leben
[3] Annemarie Schimmel (Hrsg.), Gärten der Erkenntnis. Das Buch der vierzig Sufi-Meister S. 21
[4] Nahj al-Balaghah, Aphorismen, Nr. 237, A. Jawadi Amuli: Das mystische Leben Imam Alis S.68
[5] Al-Kafi,Bd. 1, S.138 und Nahj al-Balaghah,Rede Nr. 179; A. Jawadi Amuli, Das mystische Leben Imam Alis S.48/49
[6] Ismail Kaplan, Das Alevitentum. Eine Glaubens-und Lebensgemeinschaft in Deutschland, Köln 2004, 38.
[7] Alevilerin Sesi, Nr. 88, 10/2005, 54f.
[8] Das „Hadith al Kutsi“ ist eine besondere Form des Hadith. Im Gegensatz zum Gros der Hadithe ist es nach islamischem Verständnis nicht prophetisch, sondern göttlichen Ursprungs. Überlieferung (Hadith) als Wort Gottes.
[9] Yüksel Yazici, Muhyiddin Ibnu’l Arabi S. 160
[10] Yüksel Yazici, Muhyiddin Ibnu’l Arabi S. 77
[11] Dursun Gümüsoglu, Tacü’l Arifin, Es-Seyyid Ebu;l Vefa Menakibnamesi. S. 68